Besonders Familien stellen sie sich oft: Die Stadt-oder-Land-Frage. Ist Nachwuchs im Anmarsch, scheint es für viele Städter plötzlich eine Option zu sein, raus ins Grüne zu ziehen. Wo es sich nun besser oder schlechter lebt, kann sicher nicht allgemein beantwortet werden. Zu viele Parameter und Bedürfnisse kommen individuell zusammen, aber eines ist in den letzten Monaten sichtbar geworden: Corona hat die Sehnsucht nach der Natur und dem, wenn man möchte, dazugehörigen „Landleben” verstärkt.

Unsere Nachhaltigkeitsexpertin Anna Schunck von Viertel Vor hat schon vor einigen Jahren mit ihrer Familie den Schritt getan und ein Haus in den Weiten von Brandenburg gekauft. Genauso gut kennen sie das Leben in der Metropole Berlin. Denn auch ihre dortige Wohnung haben sie nie ganz aufgegeben.

Ein Erfahrungsbericht über Stadtflucht und Landflucht vor und nach Corona. Über positive und negative Aspekte und vor allem darüber wie die Natur auf uns wirkt und wie wir dies auch ohne Umzug erreichen können. Ein Perspektivwechsel mit einem persönlichen Fazit, der aber viele allgemeingültige Aspekte beleuchtet.


„Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte“ sagte einst schon Bertolt Brecht. Und, kleiner Reim, er hatte Recht! Gewissermaßen zumindest. Denn fest steht: kaum eine (Groß-)Stadtpflanze wünscht sich nicht dann und wann von der Betonwüste auf die Wildblumenwiese. Und trotzdem, das können wir hier aus eigener Erfahrung sagen, fängt dann auch dort irgendwann wieder das Schwärmen und Vermissen des anderen Extrems an. Hach, diese Big-City-Lights…


Das grüne Gras auf der anderen Seite: Wenn der Sehnsuchtsort immer genau die Umgebung bleibt, die gerade nicht präsent ist

Eine allgemeine Ambivalenz, die seit Corona sogar noch zugenommen hat. Das bestätigt unter anderem eine aktuelle repräsentative Studie der Naturkosmetikmarke Weleda. Danach halten 85 Prozent der Deutschen den direkten Bezug zur Natur für sehr wichtig. 44 Prozent ist trotzdem auch die Stadt als Gegenpol sehr wichtig. 73 Prozent der Befragten finden, dass wir in unserer Gesellschaft den Bezug zur Natur verloren haben, viele bedauern dies – und wollen trotzdem nicht zwangsläufig mehr im Grünen sein.

Genau diesen Wankelmut verspüren wir schon seit Langem. Denn offenbar sind wir genau wie der Durchschnitt: voller Unsicherheiten in Bezug auf die richtige Balance in unserer Beziehung zur Natur. Gleichzeitig heben wir uns aber auch von der Masse ab. Können wir doch privilegierter Weise wirklich beides haben. Mit einer Wohnung in Berlin und einem Haus im gefühlt endlos weiten Brandenburg, nur eine gute Autostunde von der Mitte der Hauptstadt entfernt.


Einmal Blinzeln, alles da: Wenn der Traum vom Haus auf dem Land über Nacht wahr wird

Wie’s dazu kam? Wie so vieles eher durch Zufall. Und soviel sei gesagt: Mit einem Grundstück im Grünen ist es ähnlich wie mit einem süßen kleinen Hundewelpen. Willst Du nicht wirklich, fahr’ gar nicht erst Gucken! Wir fuhren doch – und standen eines schönen Herbstsonntags in einem Garten, den wir nie wieder verlassen wollten. Mittendrin das Backsteinhaus von um 1900. Ein Zufallstreffer aus dem Internet, den wir nach dem Frühstück im Bett beim Rumspinnen und Rumsuchen auf den gängigen Immobilienportalen entdeckten. Warum nicht mal einen Ausflug dorthin machen?

Backsteinhaus-im-Grünen

Aus einem Ausflug sind mehr als fünf Jahre später sehr viele geworden. Rund die Hälfte der Zeit wurde Brandenburg sogar unser festes Zuhause. Die Frage, ob die Einsamkeit der Alleinlage wirklich zu uns und unserem Lebensstil passen könnte, wurde überlagert von einem Instinkt, einem Sog, einer Magie – ausgelöst vom Nichts. Von nichts als Natur. Denn kaum etwas heilt eine gestresste Großstadtseele besser und schneller als Erdung. Und Erde.


Höher, schneller, weiter – Stop! Wenn Stehenbleiben Fortschritt bringt

Darin gegraben haben wir viel. Und lange nichts anderes gebraucht, als unser Renovierungsprojekt, den Garten und die Hollywoodschaukel. Kein Kleider kaufen, Kaffee trinken oder ausgehen. Keinen Style, keinen Kick, keinen Konsum. Mit dem Wohnortwechsel kam das neue Mindset. Vielleicht war es auch anders herum. Fakt ist, dass sich für uns beides perfekt bedingt und ergänzt hat.

Vorangegangen waren viele Jahre voll Zuviel. Gelangweilt vom Höher-Schneller-Weiter der Großstadt und genervt von der großen bunten Werbewand, die Menschen in Ballungsräumen so schnell von realen Prozessen entkoppelt, suchten wir nach neuer Inspiration, neuen Vorbildern und neuen Kunden für unsere freiberufliche Arbeit. Und neue Lust, zu schützen, was uns plötzlich noch viel verbundener war.


Alles ganz (öko-)logisch: Wenn Lifestyle und Mindset zu einer Einheit verschmelzen

Die Natur schärfte unser Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Sie hat uns gezeigt, dass alles Sinn ergibt, wenn wir es lassen, wie es ist. Dass der natürliche ökologische Kreislauf so logisch, sinnig und effektiv ist, dass jeder Eingriff einen Angriff bedeutet. Dass Optimierung, wenn überhaupt, nur im Einklang passieren darf. Wir machten mehr und hatten trotzdem mehr Zeit. Wir trafen neue Menschen, erweiterten unsere Horizonte und entwickelten neuen Respekt. Wer einmal erlebt hat, wie aus einem kahlen Ast eine Knospe, eine Blüte, ein Äpfelchen und dann ein prachtvoller Apfel wird, der schmeißt “angedetschtes” Obst und Gemüse nie mehr leichtfertig weg. Und wer aus dem Küchenfenster beobachtet, wie schnell eine chemisch gespritzte Pflanze empor schießt, der stellt Fragen.

Windrad auf dem Feld

Die Macht des Perspektivwechsels: Wenn man sich alle Seiten ansehen darf

Für uns hat das Leben auf dem Land viele Antworten gebracht. Nie aber genau geklärt, wo wir wohnen möchten. Aktuell ist das wieder in der Stadt, mit dem Segen der Möglichkeit zur Landflucht. Wir nutzen unsere Oase, den Kraftort, unseren Platz in der Natur an Wochenenden oder in den Ferien. Zwischendurch nutzt die Familie das Haus oder Freunde oder Bekannte kommen. Währenddessen genießen wir die auf Distanz neu entflammte Liebe zu Berlin und alles was für uns am urbanen Raum attraktiv ist.

Sei es das Auto, das wir hier nicht brauchen. Oder der Austausch mit wieder anderen und dann doch auch noch mehr und noch verschiedeneren Menschen, sei es der Puls der Zeit, der gerade in Berlin natürlich ganz anders schlägt, sei es das politische Geschehen und wenn’s nur in Form von der aktiven Teilnahme an Protesten oder das Partizipieren in (politischen) Gruppen ist. Am Ende sind es sicher auch die beruflichen Möglichkeiten, die sich für Freelance-Journalisten und Filmemacher in der Stadt anders wahrnehmen lassen. Und nicht zuletzt auch die Kinderbetreuung, die für uns persönlich hier aktuell besser funktioniert, näher liegt und konzeptionell interessanter ist, als auf dem Land.

Die Gründe für Entscheidungen sind sehr individuell und mannigfaltig. Nur eine Feststellung dürfte universell sein. Ganz ohne Grün geht’s nicht. Für keine*n. Die Natur liegt nun Mal in unserer Natur. Und so suchen wir sie auch zurück in der Stadt über Lebensmittel aus der Biokiste, auf dem Balkon, im Park und im Ursprünglichen – das uns trotz Werbewand auch im urbanen Raum fast immer besser gefällt, als das Künstliche.


Der Weg ist das Ziel: Wenn man lernen und dann weitergehen darf

Rückblickend könnte man sagen, dass sich viele Learnings auch mit einer kleinen Datsche, einem Garten am Stadtrand oder einfach mit ein paar Ausflügen eingestellt hätten. Und Fakt ist: Auf genau diesen Wegen kann jede*r suchen und finden und Natur erleben. Auch ohne Wohnortwechsel. Auch ohne Domizil irgendwo im Nirgendwo. Zum Beispiel über Portale wie Ab in’s Grüne oder We Cycle Brandenburg oder Magazine wie zum Beispiel Geo [unbezahlte Werbung].

Oder auch nur mit einem Lieblingsplatz unterm Baum, am Kanal, See, Feld oder auf dem Berg. Ein Ort, den man sich sucht und findet und behält. Ein Ort, der variiert je nach Lebenslage, oder einer, der immer bleibt. Bestenfalls im Herzen und allerbestenfalls auch dann, wenn man aktiv gerade in der gerammelt vollen U-Bahn sitzt. Denn nichts, da sind wir uns bis heute ganz sicher, und halten es frei mit Bertolt Brecht, tut dem gestressten Menschen und damit in Folge wohl auch unserem gestressten Planeten besser, als ein paar bewusste Stunden in der guten alten Natur.

© Bilder von Marcus Werner / viertel-vor.com